Kriegskinder - Generativität - Erinnerung

Kriegskinder - Generativität - Erinnerung

Organisatoren
Jürgen Reulecke; Lu Seegers, Sonderforschungsbereich 434 "Erinnerungskulturen", Justus-Liebig-Universität Gießen
Ort
Gießen
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.11.2007 - 30.11.2007
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Von
Daniela Münkel, Historisches Seminar, Universität Hannover

„Kriegskinder“ stehen im Moment hoch im Kurs: Die Medien, wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Publikationen en gros haben in den letzten Jahren das Thema aufgriffen und sind damit auf eine breite Resonanz gestoßen. Die vermeintliche Attraktivität der sogenannten „Kriegskindergeneration“ ist vor allem darin zu suchen, dass die Betroffenen „in die Jahre“ gekommen sind, allmählich aus dem Berufsleben ausscheiden und beginnen, ihr Leben Revue passieren zu lassen sowie aus der Retrospektive zu bewerten. Dabei scheinen Kindheit und Jugend, die während der Kriegzeit erlebt, durchlitten und von den Kriegsfolgen geprägt waren, eine entscheidendere Wirkung auf das spätere Leben gehabt zu haben, als dies lange von den Betroffenen und der Wissenschaft wahrgenommen worden ist. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf diejenigen gelegt, die während oder in Folge des Zweiten Weltkrieges ihre Väter verloren haben. Auffällig ist, dass in diesem Zusammenhang primär Männer in das Blickfeld geraten: „Söhne ohne Väter“ ist das dominierende Thema, obwohl es nicht weniger „Töchter ohne Väter“ gab. Die geschlechtsspezifische Fokussierung auf Männer lässt sich vor allem damit erklären, dass es eben die Männer dieser Generation sind, die in Wissenschaft und Medien die wichtigen Positionen innehaben und sich jetzt in einer Art Selbstbespiegelung ihrer „Bewusstwerdung“ als Generation zuwenden. Dabei spielen Kindheit und Jugend, bestimmt durch Kriegs- und Nachkriegszeit eine zentrale Rolle. Im Besonderen dem Aufwachsen ohne Vater in häufig stark weiblich geprägten Familienzusammenhängen wird eine für das ganze Leben nachhaltig prägende und bestimmende Rolle zugewiesen. Dass dies genauso für Frauen gelten kann, wurde lange Zeit schlicht und ergreifend – ohne dabei böse Absichten unterstellen zu wollen – kaum thematisiert. Dies hat sich in letzter Zeit geändert: Nun geraten nicht nur Frauen in den Fokus, sondern dem Thema gender, wird allgemein mehr Raum bei der Analyse gegeben.

Ende November 2007 fand an der Justus-Liebig-Universität in Gießen im Rahmen des dortigen SFB „Erinnerungskulturen“ ein Workshop veranstaltet von JÜRGEN REULECKE und LU SEEGERS zum Thema „Kriegskinder-Generativität-Erinnerung“ statt. Auffällig am Programm war, dass sich diesmal fast ausschließlich Wissenschaftlerinnen der Thematik näherten. Im Vordergrund stand hier ein Wahrnehmungs-, Generationen- und mentalitätsgeschichtlicher Ansatz, wie Jürgen Reulecke in seinen Einführungsworten hervorhob. Lu Seegers umriss dann in ihrem einführenden Vortrag nicht nur den gegenwärtigen Forschungsstand und weitere Forschungsperspektiven, sondern stellte folgende Leitfragen für die Tagung in den Mittelpunkt: Erstens „Wer sind die Kriegskinder, die sich öffentlich artikulieren“, zweitens „Kann man überhaupt von einer „Kriegskinder-Generation“ sprechen bzw. welche Begriffe wären angemessen“ und drittens „in welchem Verhältnis stehen Erinnerungen und Langzeitfolgen“. Als Ziel formulierte sie, dass der Workshop einen Beitrag dazu leisten möchte, die ganz unterschiedlichen Erfahrungswelten, Deutungsmuster und Sinnstiftungen von Angehörigen der Jahrgänge der zwischen 1930 und 1945 Geborenen aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Geografisch beschränkte man sich dabei vor allem auf Deutschland.

Die erste Sektion stellte sich dem Thema „Frühkindliche Sozialisation und Erfahrungswelten von Kriegskindern“. MIRIAM GEBHARDT (Konstanz) stellte Elterntagebücher als Quelle für die idealtypischen Vorstellungen einer frühkindlichen Erziehung im Nationalsozialismus vor. In den dreißiger und vierziger Jahren ging man von der Prämisse aus, dass der Mensch vom ersten Lebenstag an erzogen werden müsse. Paradigmen waren dabei die Normierung des Tagesablaufes sowie die Vorstellung, dass von Beginn an eine Kraftprobe zwischen den Eltern und dem Kind ausgetragen werde. Das Bild des Kindes als kleiner „Tyrann“, der in seine Schranken gewiesen werden muss, stand hier im Vordergrund. Gebhardt hob hervor, dass dies bis weit in die sechziger Jahre hinein allgemeingültige Grundsätze der frühkindlichen Erziehung blieben. Das spezifisch nationalsozialistische war jedoch das Menschenbild und das Erziehungsziel: eine soziale, tatkräftige Persönlichkeit, die ihre Umwelt „bemeistern“ kann, ausgestattet mit einem kräftigen, gesunden Körper – alles im Sinne nationalsozialistischer Herrenmenschen- und Volksgemeinschafts-Ideologie. Dass eine solche frühkindliche Erziehung das weitere Leben prägte, steht wohl außer Frage.

Lu Seegers (Gießen) referierte über „Vaterlosigkeit als Erfahrungs- und Deutungsmuster in Deutschland und Polen“. Die empirische Grundlage bildeten zehn lebensgeschichtliche Interviews mit Männern und Frauen aus West- und Ostdeutschland, sowie sechs Interviews mit Frauen und Männern aus Polen, die zwischen 1935 und 1945 geboren wurden, aus verschiedenen sozialen Schichten stammen, und ihren Vater kaum oder gar nicht mehr kennen gelernt haben. Es wurde folgenden Fragen nachgegangen: Wie wurde die Vaterlosigkeit in der Kindheit erfahren? Welche Erinnerungen besaßen die Kinder an den Vater, welche Bilder wurden ihnen vermittelt? Wie veränderten sich die Beziehungen in der Familie?
Dabei kam Seegers zu dem Ergebnis, dass in den Erzählungen der Interviewpartner das Leid der Mütter dominierte und dies sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR dazu führte, dass der Vater als „guter Mensch“ erinnert wurde. Diese Vaterbilder wurden in einen, den politischen Vorzeichen der beiden Systeme gemäßen Kontext gesetzt. In Polen hingegen musste die Erinnerung an den Vater, wenn er nicht aktiv im Widerstand gewesen war, verschwiegen werden. Für alle drei Länder galt, dass die Interviewpartner das Leid der Mutter „wieder gut zumachen“ versuchten. Setzt man die Thematik der Kriegskinder in Beziehung zur Erinnerungskultur bzw. Erinnerungspolitik so kann – so die These – eine eindeutige Dominanz der westdeutschen Erzählmuster konstatiert werden.

Die nächsten beiden Vorträge bedienten sich sehr unterschiedlicher Zugangweise zum Thema: EVA-MARIA SILIES (Göttingen) fragte nach der Rolle der Pille als Generationserfahrung für Frauen in den sechziger Jahren. Sie ging dabei von der These aus, dass die Pille eine ganz neue Form der Körperfahrung für Frauen ermöglichte und damit auch generationsstiftend wirkte. Dies wurde allerdings in der ersten Generation von Pillennutzerinnen – im Gegensatz zur nach 68er Zeit – nicht öffentlich diskutiert. Deshalb spricht Silies von einer „stillen Generationserfahrung“. Die weiterführende These, dass die Pille die Frauen der Kriegskindergeneration stärker geprägt habe als „68“, konnte nicht wirklich überzeugend begründet werden und machte eher den Eindruck, als ob sie – der im Moment offenbar aktuellen – geschichtspolitischen Relativierung der Rolle von „1968“ für die gesellschaftspolitische Entwicklung der Bundesrepublik geschuldet war. Der zentrale Diskussionspunkt im Anschluss an den Vortrag war: Inwieweit das Generationenkonzept überhaupt geeignet sei, um die Erfahrungen von Frauen mit der Pille zu fassen. Es wurde zu bedenken gegeben, dass es sich hierbei um eine intergenerationelle Erfahrung handele, die zwar primär und nachhaltiger Frauen aus verschiedenen Alterskohorten betraf, aber auch das Verhalten der Männer im sexuellem Bereich mittelfristig veränderte.

BARBARA STAMBOLIS (Darmstadt) näherte sich der Frage nach den generationsstiftenden Faktoren für die Kriegskindergeneration über die Rolle von Liedern. Dabei hob Stambolis die Rolle des HJ und BDM-Liedgutes als generationsprägende Erfahrung hervor. Diese hätten ein Gefühl der Verbundenheit geschaffen – denn wen welche Lieder prägten, sei generationsspezifisch zu fassen. Erfahrungsgeschichte wurde hier in diesem Sinne einer „gehörten und gesungenen Geschichte“ verstanden.

Die erste Sektion, die zwar interessante Einzelergebnisse bot, ließ allerdings ein wenig den inneren Zusammenhang vermissen, was die Diskussion zersplitterte und eine Zusammenführung der Einzelergebnisse im Hinblick auf eine übergreifende Beurteilung erschwerte. Dies änderte sich in der zweiten Sektion, die sich mit methodischen Fragen sowie den Kriegskindern als Gegenstand der Erinnerungspolitik aus verschienenden Blickwinkeln befasste.

Zunächst setze sich ULRIKE JUREIT (Hamburg) mit dem Konzept „Generationen-Gedächtnis“ auseinander. Sie ging dabei in drei Schritten vor: Erstens betrachtete sie das Konzept der „Generation als rationale Kategorie“. Zweitens wurde die Generationenbildung als kommunikativer Prozess und die Selbstverortung der Kriegskindergeneration als Erinnerungsgemeinschaft beschrieben. Drittens ging Jureit der Frage nach dem erinnerungspolischen Ort der Kriegskinder in der gegenwärtigen Diskussion nach. Hier stellte sie die These auf, dass bei den Kriegskindern „Gemeinschaftsstiftung“ und „Erinnerungspolitik“ zusammenfallen, denn die öffentlich thematisierte „Vaterlosigkeit“ sei im Kontext der NS-Opfererinnerungskultur zu verorten.

Am Beispiel des Hamburger Feuersturms vom Juli 1943 fragte MALTE THIEßEN (Hamburg) nach dem Einfluss der öffentlichen Erinnerungskultur auf die Deutungsmuster der Zeitzeugen für ihre persönlichen Erinnerungen und damit auch auf den generationsbildenden Erinnerungshaushalt der Kriegskinder. Thießen konnte überzeugend nachweisen, dass die jeweils dominante öffentliche Erinnerungskultur eine wichtige Deutungsfolie für die persönliche Geschichten der Zeitzeugen bildet, in dem Elemente und Erklärungen in die Erzählung und Deutung der eigenen Kriegserlebnisse übernommen werden.

Abschließend setzte sich DOROTHEE WIERLING (Hamburg) kritisch mit der Frage auseinander, warum Kriegskinder vor allem als „westdeutsches-bürgerliches Männerphänomen“ wahrgenommen werden. Sie erörterte, welche Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland zu beobachten sind. Dass dabei vor allem westdeutsche, bürgerliche Männer in der Öffentlichkeit die Generation der (vaterlosen) „Kriegskinder“ vertreten und damit ihr Bild prägen hat nach Wierling folgende Gründe: Erstens würde die kriegsbedingte „Vaterlosigkeit“ als wichtiges Moment der Generationenbildung und -identifikation für Männer als folgenreicher angesehen als für Frauen. Zweitens würden sich vor allem Akademiker in der Regel Hochschullehrer, also Personen, die den Umgang mit der Öffentlichkeit gewohnt sind und sich durch ein hohes Reflexionsniveau auszeichnen, zu Sprechern der „Kriegskinder“ erklären. In diesen Berufen sind Frauen der gleichen Altersklassen völlig unterrepräsentiert. Insgesamt scheinen bestimmte Erzählmuster zu dominieren – in dem ein Spannungsverhältnis zwischen biographischem Leiden – hier besonders durch die Vaterlosigkeit bedingt – und dem beruflichen Erfolg aufgebaut wird. Demgegenüber stehen bei ehemaligen DDR-Bürgern der gleichen Altergruppen weniger der Krieg und seine Folgen für das persönliche Leben als Referenzpunkt im Mittelpunkt ihrer persönlichen Lebensgeschichte als vielmehr die Zäsur von 1989. Darüber hinaus gab es in der DDR keinen öffentlichen Raum für eine Generationenbildung, dies lag u.a. an der Tabuisierung von Flucht- und Vertreibung sowie an der Tatsache, dass „Generation“ als Beschreibungskategorie in der DDR keine Rolle spielte – hier war die „Klasse“ entscheidend. „Kriegskind“ als Generationsstiftung sei demzufolge keine „geteilte“, sondern eine „getrennte“ Erfahrung zwischen der Bundesrepublik und der DDR.

Die Abschlussdiskussion drehte sich u.a., um die Frage nach der seit geraumer Zeit zu beobachtenden Bedürfnis von Einzelnen oder Gruppen, sich einer Generationen zuzuordnen. Dies könnte – so ein wichtiges Argument – als Gegenreaktion auf die immer weiter voranschreitende Globalisierung als individuelle Form der Vergemeinschaftung interpretiert werden. Darüber hinaus wurde auf die bestehenden Defizite der deutschen Zeitgeschichtsforschung im Hinblick auf erfahrungs- und mentalitätsgeschichtliche Ansätze, die auch das Konzept der „Generativität“ stärker in den Mittelpunkt stellen, hingewiesen. Der Gießener-Workshop hat im Hinblick auf das Themenfeld „Kriegeskinder – Erinnerung – Generativität“ gezeigt, wie erkenntnisfördernd solche Ansätze sein können.

Konferenzübersicht:

Workshop: Kriegskinder - Generativität - Erinnerung

Sektion 1: Frühkindliche Sozialisation und Erfahrungswelten von „Kriegskindern“
Miriam Gebhardt (Universität Konstanz): „Jede große Zeit erfordert große und harte Menschen“ - Elterntagebücher in der NS-Zeit zwischen Expertenrat und familialer Weitergabe.
Lu Seegers (JLU Gießen): Vaterlosigkeit als Erfahrungs- und Deutungsmuster in Deutschland und Polen.
Eva-Maria Silies (Graduiertenkolleg Generationengeschichte, Georg-August-Universität Göttingen): „...die Pille als Rezept in der Hand zu haben heißt, ich bin frei.“ Neue Wege der Verhütung als stille Generationserfahrung von Frauen in den sechziger Jahren.
Barbara Stambolis (TU Darmstadt): Im lebenslangen mentalen Gepäck: Zur Analyse ge- und ersungener Erfahrungsgeschichten der Kriegskindergeneration des Zweiten Weltkriegs.

Sektion 2: Methodische Fragen und „Kriegskinder“ in der Erinnerungspolitik
Ulrike Jureit (Hamburger Institut für Sozialforschung): Generationen-Gedächtnis. Kritische Überlegungen zu einem tragfähigen Konzept.
Malte Thießen (Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg): Zeitzeuge vs. Erinnerungskultur? Zum Verhältnis von öffentlichen und privaten Kriegserinnerungen.
Dorothee Wierling (Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg): Kriegskinder: ein westdeutsch-bürgerliches Männerphänomen?


Redaktion
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